Rahmenbedingungen der Branche Gesundheitswesen und Soziales

1. Entwicklung und Lage der Branche In den letzten Jahren ist der zweitgrößte Beschäftigungsmarkt nach der Metall- und Elektroindustrie in der Bundesrepublik Deutschland zur marktwirtschaftlichen und wettbewerblich geregelten Finanzierungsform ausgerichtet worden. Ausgelöst durch das Gesundheitsstrukturgesetz von 1993 und den folgenden Veränderungen in allen Leistungsgesetzen des Gesundheitswesens und dem Bereich Soziales hat eine fast vollständige Ökonomisierung der Beziehungen im Gesundheitswesen stattgefunden. Dieses System löste das bis Anfang der 90er Jahre gültige so genannte Selbstkostendeckungsprinzip ab. In den Leistungsgesetzen zur Refinanzierung von Gesundheitsversorgung und Sozialer Dienste sind staatlich administrierte Preise auf Grundlage der bundesweit ermittelten Bruttolohnsumme, die nicht den konkreten Steigerungsraten innerhalb der Branche entspricht, eingezogen und lassen die vollständige Refinanzierung der Steigerungsraten von ausgehandelten Tariferhöhungen durch Gewerkschaften nur noch zum Teil zu. Die Differenz wird nicht mehr ausgeglichen. Die Umstellung der Finanzierung mit Deckelung und prospektiven Pflegesätzen ist fast durchgängig in der gesamten Branche Gesundheitsund Sozialwesen etabliert. Wettbewerblich geregelte Finanzierungsform Die Folge dieser strukturellen Veränderungen sind Preiswettbewerb und die Bildung von Teilmärkten. Das Gesundheits- und Sozialwesen ist auch global eines der wesentlichen Wachstumsmärkte und rückt immer stärker in das Licht privaterwerbswirtschaftlicher Verwertungsinteressen. Um die Größenordnungen darzustellen, um die es geht, siehe die Grafik unten links. Aus der Grafik wird deutlich, dass große Teile der Grundsicherung öffentlicher Daseinsvorsorge, nämlich Gesundheit, inzwischen zu fast 1/8 durch private Haushalte (im Jahr 2003 12%) finanziert werden. Dies, obwohl die abhängig Beschäftigten über die so genannte paritätische Finanzierung in die Sozialversicherungssysteme einzahlen und ihnen gleichzeitig immer mehr Leistungen vorenthalten werden, die dann durch Zuzahlung aus eigener Tasche zu finanzieren sind. Zudem kommt die besondere Betroffenheit derer ins Spiel, denen sich dieser Geschäftsbericht widmet, nämlich den abhängig Beschäftigten, die unter enormer Steigerung der Arbeitsbelastung bei gleichzeitiger Verschlechterung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen auszukommen haben. Der Anteil der Kosten für das Gesundheitswesen ist von 1992 bis 2003 im Vergleich mit dem Bruttoinlandsprodukt gerade mal um 1,2 Prozentpunkte gestiegen. Von einer Kostenexplosion kann da doch wahrlich nicht geredet werden! (s. Grafik rechts). Eine der Folgen dieser Gesundheitspolitik ist der zunehmend ruinöse Preiswettbewerb, der insbesondere an Outsourcing, Privatisierung, Tarifflucht, Ausbau prekärer Arbeitsverhältnisse und massivem Personal- und Stellenabbau erkennbar ist.

Erosion tariflicher Standards Gab es noch bis Ende der 80er Jahre für Arbeitgeber in der Branche eigentlich gar keinen Grund, vom branchenüblichen Standard BAT/BMT-G abzuweichen, weil dieser Tarifstandard im Grunde genommen in jedem Leistungsgesetz als Refinanzierungsgrundlage verankert war, sieht es inzwischen komplett anders aus. Arbeitgeber, die unter den üblichen Tarifstandards zahlen, erwirtschaften Wettbewerbsvorteile. Dies ist in schlecht organisierten Bereichen und Branchensegmenten, in denen keine kollektivrechtlichen Vereinbarungen vorhanden waren und betriebliche Interessenvertretungen fehlen, besonders leicht möglich. Paradebeispiel und Spitzenreiter im »Schwarzbuch« der tarif- und mitbestimmungsrechtlichen Standards sind die ambulanten Dienste nach SGB XI in der Altenpflege. In diesem Branchensegment sind inzwischen bundesweit über 200.000 Beschäftigte zu verzeichnen, die beinahe durchgängig in prekären Arbeitsverhältnissen stundenweise, fast durchgängig befristet, ohne tarifvertragliche Grundlage oder gar betrieblicher Interessenvertretung Pflege verrichten. Bei Stundenlöhnen, insbesondere im ländlichen Bereich, die weit unter dem liegen, was ver.di in tariflichen Standards für die Branche vereinbart hat. Inzwischen muss man davon ausgehen, dass auch für diesen Bereich die Mindestlohnkampagne (7,50 Euro!) nicht nur eine Auffanglinie, sondern eine Verbesserung darstellen würde. Strukturell bedeutet das, dass eine tarifliche Ankoppelung der Branche primär über die Art der Refinanzierung, nicht jedoch über Tarifverträge – schon gar nicht auf Grundlage eigener Tarifmächtigkeit – erfolgt. Bis Anfang der 90er Jahre hat die gesamte Branche Gesundheit und Soziales automatisch von den Tariferhöhungen des öffentlichen Dienstes partizipiert. In der Vergangenheit war es so, dass wenige Tausend Kollegen in orangefarbener Arbeitskleidung durch Warnstreiks und Erzwingungsstreiks die Tarifstandards für den gesamten öffentlichen Dienst und in Folge die Anwendung in anderen Dienstleistungsbereichen für 6 bis 7 Millionen Beschäftigte über den Flächentarifvertrag BAT/BMT-G die Entlohnungsbedingungen normiert haben. Diese Standards wurden automatisch in die Leistungsgesetze des Gesundheits- und Sozialwesens aufgenommen. Die Arbeitgeber in der Branche Gesundheitswesen und Soziales, die ihren Beschäftigten diesen Tarifstandard nicht gezahlt haben, hatten mittelfristig Schwierigkeiten qualifiziertes Personal zu bekommen. Tarifpolitische Rutschbahn – eigene Tarifmächtigkeit liegt nur bedingt vor Diese Rahmenbedingungen machten eine gewerkschaftliche Organisation im Hinblick auf Durchsetzungskraft und Tarifmächtigkeit auf den ersten Blick überflüssig. Dieses strukturelle Defizit rächt sich aber nun um so mehr. Die Veränderung in der Refinanzierung hat daher eine krisenhafte Erosion des BAT/BMT-G, nunmehr des TVöD als Flächentarifvertrag für die Branche, zur Folge: Dieser Prozess ist in einem fortgeschrittenen Stadium, hat aber seinen Höhepunkt noch nicht erreicht. Hatten die vorab beschriebenen Tarifauseinandersetzungen der Vergangenheit eine ausstrahlende Wirkung von BAT/BMT-G auf die so genannten Satelliten, gemeint sind damit die wesentlichen Träger der Leistungen im Bereich Gesundheit und Soziales außerhalb des öffentlichen Dienstes, wie Kirchen und ihre Einrichtungen, Wohlfahrtsverbände und private Anbieter, haben die Entwicklungen der letzten 13 Jahre zu einer »tarifpolitischen Rutschbahn« geführt. Dies ist zum einen an der inneren Erosion, wie z.B. Notlagenund Härtefallregelungen, sowie an der strukturellen Abkehr vom Flächentarifvertrag oder zeitverzögerten Tarifübernahmen zu erkennen. Im Bereich der äußeren Erosion sinkt der Grad der Verbindlichkeit, was Unterschreitungen der Tarifstandards sowie Teil- bzw. Nichtanwendung angeht. Outsourcing, Privatisierung und Tarifflucht durch Verbandsaustritt sind an der Tagesordnung. Service- GmbHs werden en masse gegründet, um neues Personal außerhalb der bestehenden Strukturen – egal welcher Rechtsform – in eigenen GmbHs einzustellen, um sie sich selbst zu verleihen. Sehr misslich ist dabei auch die Situation, dass diese neu eingestellten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Service-GmbHs nach dem über den DGB abgeschlossenen Tarifvertrag für Leiharbeitnehmer und Leiharbeitnehmerinnen mit den Verbänden IGZ und BZA kollektivrechtlich normiert sind. Zudem hat sich das Tarifrecht ohne Bezug auf die Tarifstandards des öffentlichen Dienstes massiv weiterentwickelt. Dies ist insbesondere in Tarifverträgen mit privaten Anbietern der Branche Gesundheit und Soziales in Konzern- bzw. Haustarifverträgen festzustellen. Erstes Fazit An dieser Stelle kann ein erstes Fazit gezogen werden. Unsere Prognosen zur Erosion der Flächenwirkung der Tarifverträge des öffentlichen Dienstes in der Branche Gesundheitswesen und Soziales sind weitestgehend eingetreten. Es ist nicht gelungen, in den letzten 13 Jahren die Tarifmächtigkeit der so genannten Satelliten entsprechend auszubauen, in einigen Bereichen gar zu sichern. Selbst in den Kernbereichen der gewerkschaftlichen Organisationsmacht von ver.di – wie z.B. kommunale Krankenhäuser und Universitätskliniken – musste 2006 ein Minderheitenstreik geführt werden. Es ist zu konstatieren, dass das Tarifrecht sowie die tariflichen Standards in der Branche weiter ausgehöhlt und neben BAT/TVöD ohne strukturellen oder gar materiellen Bezug massiv und zwar meist zu Lasten der abhängig Beschäftigten weiterentwickelt worden sind. 2. Struktur und Daten der Branche In der Branche Gesundheits- und Sozialwesen umfassen wir die Bereiche Behandlung, Therapie, Pflege, Betreuung, Nachsorge, Reha, Altenpflege, Kinderund Jugendhilfe, Soziale Dienste, Psychiatrie, Rettungsdienst etc. In diesem Bereich sind insgesamt mehr als 4 Millionen Menschen, davon 3 Millionen Frauen, beschäftigt, davon 2,5 Millionen im Bereich »Gesundheit« einschließlich der ambulanten Bereiche sowie 1,5 Millionen Beschäftigte in dem Branchenfenster »Soziale Dienste« einschließlich Altenpflege, Kitas und Behindertenhilfe. In den nachfolgenden Grafiken wird dargestellt, in welchen Versorgungsbereichen die Beschäftigten zu verorten sind.

Quelle auch aller folgenden Tortendiagramme: eigene Berechnung; Datengrundlage: IAB-Panel

Die Trägerschaft in der Branche wird mit den folgenden Grafiken skizziert.

Dabei fällt auf, dass der größte Bereich privater Trägerschaft in Bezug auf die gewerkschaftiche Organisation abhängig Beschäftigter anscheinend einigermaßen unbemerkt vor sich hin dümpelt. Dies ist u.a. der Tatsache geschuldet, dass dort allein über 0,5 Millionen Beschäftigte in Arzt- und Zahnarztpraxen zu finden sind, die, bis auf einzelne, die ein arbeitsrechtliches Problem hatten, überhaupt nicht in ver.di organisiert sind. Bleiben immer noch 1 Millionen – aber zum Organisationsgrad später. Auffällig der Bereich Kirchen, mit über 1,3 Millionen Beschäftigten inzwischen der zweitgrößte Arbeitgeber nach dem öffentlichen Dienst in der Bundesrepublik Deutschland. Für die Bundesländer Niedersachsen und Bremen gliedert sich der Krankenhaus-Bereich folgendermaßen auf:


3. Tarifbindung Kirchen und ihre Einrichtungen (Caritas/Diakonie) regeln bekanntermaßen ihre Angelegenheiten auf Grundlage der Weimarer Reichsverfassung, Artikel 137 und 140 Grundgesetz selbst. Somit auch die eigene Arbeitsrechtsregelung. Nur in den Landeskirchen Nordelbien (Hamburg und Schleswig-Holstein) sowie Berlin-Brandenburg sind kollektivrechtliche Vereinbarungen vorzufinden. Diese Tarifvertragsstrukturen sind eingeführt worden, ohne dass dies mit eigener Tarifmächtigkeit erstreikt und durchgesetzt worden ist – wie in allen anderen Bereichen der Branche auch. Zu erkennen ist auf der Grafik, dass die Tarifbindung im Bereich Kirchen und ihrer Einrichtungen mit 5.000 von ca. 1,3 Millionen nur marginal ist. Formell haben Gewerkschaften aufgrund des Sonderstaatskirchenrechtes nicht einmal Zutrittsrecht zu diesen Einrichtungen. Die Tarifbindung bei den privaten Anbietern ist ein Stück weit höher und liegt bei ca. 80.000 zu 1,45 Millionen nicht kollektivrechtlich gebundener Beschäftigter proportional aber immer noch auf äußerst schlechtem Niveau. Die Tarifbindung bei den Wohlfahrtsverbänden liegt bei etwas mehr als 21%. 4. Grad der Tarifbindung Auffällig ist, dass die Hälfte – also 2 Millionen – der Beschäftigten der Branche überhaupt nicht tarifgebunden sind und darüber hinaus noch fast ein weiteres Drittel durch die besondere Arbeitsrechtsregelung bei Kirchen und ihren Einrichtungen nicht unmittelbar unter die Geltung von tarifrechtlichen Vereinbarungen fallen. Nicht mal mehr ein Viertel der Beschäftigten der Branche fällt unter kollektivrechtliche Regelungen, die unmittelbar aus den Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes abzuleiten sind.

Fazit + Die Branche Gesundheit und Soziales hat kein einheitliches Tarifrecht (mehr). + In Teilbereichen haben die Tarife des öffentlichen Dienstes nie gegolten. + In anderen Branchenbereichen, z.B. ambulante Pflege und Servicebereiche, sind die Tarifstandards weggebrochen. + Selbst in den Kernbereichen des öffentlichen Dienstes ist die Tarifsituation in weiten Bereichen als äußerst instabil zu bezeichnen.